Fundstückgeschichte: Es war einmal Musik

Es gibt etwas Neues auf Ideenfülle! Ich weiß noch nicht, wohin es führt, aber mein Herz sagt: „Go for it.“

„Die Geschichten liegen auf der Straße!“

Dieser Satz begegnete mir als Radiovolontärin und hat mich seitdem nicht mehr verlassen. Was im Journalismus der Kompass zum Finden von Geschichten ist, gilt für mich auch im Kreativen Schreiben: Schau hin. Sei präsent. Horche. Und vor allem: Bleibe neugierig, höre nie auf mit dem Fragen. Dann finden dich die Geschichten. Manchmal liegen sie auf der Straße, kleben an Laternenpfählen, stehen an Bushhaltestellen, schwimmen im Fluss. Geschichten sind überall, man muss sie nur wahrnehmen. Hier teile ich meine „Fundstückgeschichten“ mit euch. Es sind Geschichten, die aus kleinen, feinen, besonderen Fundstücken im Alltag entstanden sind – weil sie mir ins Auge oder in die Hände gefallen sind. So verschieden sie auch sind, haben sie doch eines gemeinsam: Sie sind immer aus einem kurzen Moment heraus entstanden, weil das Fundstück mich hat stutzen, innehalten oder schmunzeln lassen. Weil es mich berührt hat und/oder eine Frage hinterlassen hat. Am Ende jeder Geschichte löse ich auf, um was für ein Fundstück es sich handelt und teile micht euch ein Foto (wenn ich eines habe) Viel Freude damit.

Es war einmal Musik

Sie fährt mit den Fingern über die feinen Rillen, folgt ihrem gerundeten Weg. Zarte, aber deutliche Linien unter ihren Fingerkuppen. Sie lässt sich eine Weile von den gleichmäßigen, kaum wahrnehmbaren Bögen leiten. Dem Weg, den sonst die Nadel nimmt. Es beruhigt sie.

Auch nach all den Jahren ist es noch unbegreiflich für sie, dass dieses Zusammen aus feinen Wellenkämmen und -tälern der Schlüssel zu der Musik sein soll, die in dieses platte Stück Lakritz gepresst ist. Eine Welt aus Pauken, Geigen, mal ein Fagott dazwischen. Gezeiten aus Wogen, die überschwemmen und das Herz mitnehmen, dann wieder Ebbe, die das Ohr mit Flüstern und Glucksen an den Lautsprecher lockt. Dazwischen das unerlässliche Verbindungsstück: die Pausen. Ohne dieses Ausruhen für die Ohren, diese Rast für das Herz und das Ausatmen für die Seele wäre das alles nichts, findet sie. Die Pausen und ihre knisternde Stille. Für sie sind sie das Wesentliche.

Sie atmet aus. Er hat das immer anders gesehen, lebt seit jeher für das Meer aus Klängen, sein Kommen und Gehen. Früher haben sie gemeinsam darin gebadet. Er ließ sich von den Gezeiten mitnehmen, sie war eingebettet in die Stille, die alles zusammenhält.

Er hat das immer anders gesehen, lebt seit jeher für das Meer aus Klängen, sein Kommen und Gehen. Früher haben sie gemeinsam darin gebadet.

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Sie lässt ihre Finger im rechten Winkel abbiegen, raus aus der Mitte, quer nach außen. Die Kämme schubbern unter ihren Fingerbeeren entlang. Schließlich nimmt sie die Platte zwischen die Spitzen ihrer Zeigefinger und betrachtet sie.

Lakritzschwarz mit narzissengelbem Etikett. Berliner Symphoniker steht darauf. Stand. Nun steht dort „Berli Philhar“. Die „er moniker“ befinden sich auf dem Teil der Platte, auf dem sie noch sitzt. „Klingt viel exotischer als vorher“, denkt sie kurz. Aber das ist auch schon das einzig Gute an dieser Sache. Sie hat ihm die Platte zum ersten Hochzeitstag geschenkt, als Erinnerung an das Konzert, bei dem sie sich kennengelernt hatten. Seitdem haben sie sie jedes Jahr an diesem Tag gehört. Mit einem Glas Rotwein, die Lautsprecher so weit aufgedreht wie es nur geht. Baden im Ozean der Klänge. Ein Ritual, das noch wichtiger geworden ist, seitdem sie nicht mehr ins Konzert gehen können. Sie betrachtet die schwarz-gelben Zähne, die die Platte nun in eine Raubtierfratze verwandelt haben. 41 ihrer Rituale hat die Platte begleitet. Das 42. wird sie nun nicht mehr erleben.

Sie rutscht in ihrem Sessel hin und her, als würde das zweite Bruchstück so im Polster verschwinden oder sich gleich ganz in Luft auflösen. Aber das würde ja auch nichts nützen. Ihre Arme sinken auf die Sessellehne. Auf einmal ist sie ganz zittrig, atmet seufzend aus. „Was soll ich denn jetzt bloß tun?“, fragt sie die Fratze, die nun mit ihren Händen tattert. Keine Antwort. Sie fragt sich, wie sie die Platte ersetzen soll. Was wird er tun, wenn er seine Gezeiten braucht ? Auch zwischen ihren Hochzeitstagen? Wird er sie beschimpfen? Wir er ihr Dinge an den Kopf werfen? Buchstäblich? Bücher vielleicht? Davor, das so etwas passieren könnte, hat sie schon Angst, seit es begonnen hat.

Sie weiß, er wird nichts davon aus Böswilligkeit tun und seine Wut, seine Ohnmacht, vielleicht seine Angst, werden nicht ihr gelten. Zumindest hat der Arzt das gesagt. Aber was der Kopf weiß, muss das Herz nicht fühlen. Jetzt wird sie ihm nicht mehr helfen können. Jetzt wird sie sich nicht mehr helfen können.

Sie schaut hinüber zur Couch. Er liegt da und schläft. Sein Gesicht ist zur Hälfte in sein Lieblingskissen mit den Rosen darauf gesunken. Knautschig und friedlich liegt er da, weißer Haarflaum umgibt seinen Kopf. Er hat sich die Wolldecke bis unters Kinn gezogen. Die Hände darunter sind ineinander verschränkt und halten die Decke als könnte jeden Moment jemand am anderen Ende ziehen und sie ihm wegnehmen. Wie ein Kind sieht er aus, verletzlich. Und manchmal ist er das sogar. Ein 80jähriger, der morgens ein Junge ist und mit dem Fahrrad und der Kanne Milch vom Nachbarn holen gehen will. Dann muss sie ihn ablenken, damit er nicht im Schlafanzug zur Wohnungstür hinaus schlurft. Minuten später schaut er ihr ins Gesicht und hält sie für eine Studienfreundin.

An einem Tag reisen sie durch Jahrzehnte. Sie wünschte, es wäre eine nostalgische Reise durch Erinnerungen, warm eingepackt und händchenhaltend am Feuer, wie in diesen Romanen, in denen immer alles gut ausgeht. Aber es ist eine anstrengende, traurige Reise.

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An einem Tag reisen sie durch Jahrzehnte. Sie wünschte, es wäre eine nostalgische Reise durch Erinnerungen, warm eingepackt und händchenhaltend am Feuer, wie in diesen Romanen, in denen immer alles gut ausgeht. Aber es ist eine anstrengende, traurige Reise. Zumindest für sie. Wie es für ihn ist kann sie nur vermuten, es in seinem Gesicht lesen. Sie reden nicht mehr, denn längst sind Gedanken für ihn zu bunten Schmetterlingen geworden, die sich flüchtig auf seiner Zunge niederlassen und dann weiter flattern. Heute früh im Bad, da war er traurig. Das weiß sie. Zuerst hat er ihr mit einem Lächeln ins Gesicht gesehen und dann zerfloss es förmlich. Es blieben Kummer und Unverständnis. Sie glaubt, dass er nicht nicht mehr wusste, wer da vor ihm steht. Dass er nur wusste, dass er es wissen sollte.

Am schlimmsten findet sie diese Unberechenbarkeit. In einem Moment ist er bei ihr und alles scheint in Ordnung. Dann vergisst sie fast den Milchglasnebel, der ihren Mann verfolgt, um sich in seinem Gehirn auszubreiten und es in Besitz zu nehmen. Im nächsten Moment dreht er sich um und hält sie für eine Fremde, die unerlaubt in seine Wohnung eingedrungen ist. Schimpfen, Zetern, Gestikulieren. Die Pflegekräfte hier sind nett und helfen wo es geht, aber sie möchte sie nicht immer rufen, wenn es schwierig wird. Nach bald 45 Jahren zu zweit möchte sie keine Fremden zwischen ihnen. Sie sollte doch diejenige sein, die ihn besänftigt, die ihm Geborgenheit schenkt. Es heißt ja nicht umsonst „In guten wie in schlechten Zeiten“…

In solchen Momenten hat ihr immer die Platte geholfen. Sobald die Nadel über das Vinyl glitt, konnten sie eintauchen. Er in die Gezeiten aus Klängen, sie in die Pausen. Beide versunken, jeder für sich und doch zusammen. Sie schmunzelt, denkt daran wie er mit dem ersten Knistern aus den Lautsprechern ganz still wird, sich sein Gesicht entspannt. Wie sich gleichzeitig die Spannung in ihren Schultern, ihrem Nacken und ihrem Magen löst. Dann lässt ihn die Ouvertüre lächeln. Die Takte fließen dahin, durch ihn hindurch. Bis er mit ausgebreiteten Armen, ein unsichtbares Orchestern dirigierend, durch den Raum schreitet und leise summt.

Sie denkt daran, wie er mit jeder Note weiter bei sich selbst ankommt und ihr das Herz aufgeht. Manchmal denkt sie in diesen Momenten auch daran zurück, wie er vor viereinhalb Jahrzehnten in der Konzertpause zum ersten Mal vor ihr stand: schick im Anzug und mit einem Lächeln, dass ihm bis in die Augen strahlt.

Aber daas war einmal. Sie legt das Stück Raubtiergrinsen beseite und will sich noch einen Tee holen. Da wacht er auf und schaut sie an. Da ist kein Lächeln, das es bis hinauf in die Augen schafft. Nur eine Frage, dann Angst. Sie schaut zum Plattenspieler, dann auf die Bruchstücke hinter sich. Sie holt tief Luft, zögert kurz. Dann drückt sie den Rufknopf an der Wand. Die eilig-quietschenden Schritte auf dem Gang sagen ihr, dass die Pflegerin schon auf dem Weg ist.

Fundstück: Zerbrochene Schallplatte von den Berliner Philharmonikern
Fundort: Ein Bürgersteig im Ammerland
Funddatum: Sommer 2017

Meine Einladung an dich:

Fühle dich eingeladen, selbst eine Fundstückgeschichte zu schreiben! Geh` hinaus in die Welt und sei achtsam, dann die Geschichten dich schon finden. Ich freue mich, wenn du auf meinen Blog/diesen Beitrag verweist und verlinkst und den Hashtag #fundstückgeschichten verwendest, wenn du deine Fundstückgeschichte online stellst!

Geh` hinaus in die Welt und sei achtsam, dann die Geschichten dich schon finden.

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